Eins der wundervollsten Dinge, die einem passieren, wenn man nicht mehr trinkt, ist die Selbstfindung. Klingt pathetisch, ist es auch: Das Leben ohne Alkohol eröffnet dir die seltene Gelegenheit, deinem wahren Ich "Hi" zu sagen.
Ich war 18, als ich mich zum ersten Mal betrank und 35, als es zum letzten Mal passierte. Dazwischen: viele steinige Wege, die mich immer weiter von mir entfernten.
Von mir, die Tiere, Honigmilch und Lammfelldecken liebt. Stattdessen wurde ich zu der, die das Gefühl von Freiheit in durchzechten Nächten, einer Flasche Wein in der Badewanne oder schnellem Sex mit verheirateten Männern suchte. Das war ich nicht. Und doch war ich es. Natürlich war ich es. Und natürlich war ich nicht immer nur das. Und trotzdem war ich nun mal genau das. Weil ich glaubte, so sein zu wollen und darum auch so oft wie möglich so war.
Leben ohne Alkohol: Diese Erkenntnis war mind blowing und ist schmerzhaft gleichzeitig
Ich habe heute noch ein Gewirr im Kopf, wenn ich mir klar werden möchte darüber, ob ich diese steinigen Wege in voller Überzeugung ging oder nicht, ob ich tatsächlich glaubte, genau das Richtige zu tun oder ob ich irgendwie schon wusste, dass alles irgendwann aus dem Ruder laufen würde. Natürlich tat ich das alles freiwillig, es zwang mich ja niemand. Gerade darum ist es heute so schwer für mich, mich damit auszusöhnen. Ich kann niemandem die Verantwortung dafür übertragen.
Dass ich jahrelang ein Leben lebte, das nicht meinem angeborenen Wesen entsprach, wurde mir erst klar, als ich nicht mehr trank. Diese Erkenntnis war mind blowing. Als ich noch trank, glaubte ich, mich selbst verleugnen zu müssen, sobald ich aufhören würde mit dem Alkohol. Ich wusste nicht, dass genau das Gegenteil passieren würde, sobald ich mich vom Alkohol verabschiedete.
Denn so ist das mit dem alkoholfreien Leben: Es legt alles blank. Weil da kein Mittel mehr ist, das einem beim Wegschauen hilft. Kein Mittel mehr, das einem vom Wesentlichen ablenkt. Nix, das vorher so zuverlässig zur Verfügung stand. Jetzt gibts nur noch dich und deine Selbstverantwortung, die so scheiss schwer sein kann. Nur dich und den klaren Blick auf das, was du die letzten Jahre so geliefert hast. Das ist hart. Für mich wars hart.
Einschub: Ich vermute, dass viele, die mich kennen, diese Veränderung an mir nicht bemerken. Denn tatsächlich bin ich kein anderer Mensch heute. Denn das alles passierte vor allem im Innern. Das kommt in kleinen Schritten, die die Aussenwelt nicht mitbekommt. Wichtig ist, dass ich sie gehe und dass ich sie mitbekomme. Und dass sie mich immer noch zufriedener machen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns nur dann nachhaltig vom Alkohol verabschieden können, wenn wir einen Teil unserer Identität ablegen. Den konstruierten Teil unserer Identität, der, den wir uns im Zuge unseres Konsums zulegten. Der, der alles irgendwie rechtfertigte, was wir taten ("Ich liebe die Freiheit, und dazu gehört der Alkohol!" oder "Wein ist ein Kulturgut!").
Der konstruierte Teil unserer Identität, an dem wir uns festklammern und nicht rütteln wollen, weil wir ihn uns völlig einverleibt haben und uns fürchten, genauer hinschauen zu müssen ("Ich bin ängstlich, und ich kann meine Angst nur mit Alkohol lösen!"). Der, mit dem wir uns anders geben wollen, wenn wir beispielsweise unter Leuten sind ("Ich mag es nicht, wenn ich schüchtern bin, darum brauche ich einen Drink zur Auflockerung.").
Alkoholfrei und glücklich: Ich mag mein Ich und ich lerne von ihm
Ohne Alkohol eröffnete sich mir die seltene Chance, meinem wahren Ich "Hi" zu sagen. Selbstfindung, dieses schöne Wort, das ich früher irgendwie nervig und altbacken fand, passierte einfach. Ich glaube nicht, dass sich viele Menschen vom Alkohol verabschieden mit der Absicht, näher an ihr wahres Ich zu gelangen. Vermutlich tun sie es, weil sie sich gesünder und klarer im Kopf und zuverlässiger fühlen möchten. Jedenfalls war das meine Intention.
Dass ich jetzt meiner selbst viel mehr bewusst bin, Grenzen setzen kann, weil ich meine wahren Bedürfnisse kenne - und respektiere! - und klare Visionen vor Augen habe, die ich ohne Wenn und Aber verfolge, ist das grösste Geschenk, das ich mir je machen konnte. Ich habe meinem wahren Ich "Hi" gesagt, und ich mag es. Und ich mag den Prozess, der mich immer noch weiter an mich heranführt. Ich lerne unendlich viel dabei.
Ich könnte an dieser Stelle noch seitenweise weiterschreiben. Über all die Möglichkeiten, die sich mir täglich eröffnen, seit ich mich selbst besser kenne. Wie alles viel leichter, klarer und unkomplizierter funktioniert. Wie ich morgens mit einem Lächeln aufstehe (no joke) und zufrieden (meistens) abends schlafen gehe. Es ist grossartig. Ich will das nie wieder verlieren.
Doch möchte ich gleichzeitig nicht zu viel von mir erzählen an dieser Stelle. Denn: Jeder Weg zu sich selbst ist individuell - und jeder individuelle Weg bringt individuelle Vorteile. Der Weg hin zu sich selbst bringt bei allen Vorteile. Und sie sehen bei allen anders aus.
Eine meiner Coaching-Klientinnen sagte gestern in unserem wöchentlichen Gespräch etwas, das mich tief bewegte. Sie sprach davon, dass sie früher beim Gedanken, mit dem Alkohol aufhören zu müssen, immer Angst bekam: Angst, etwas zu verpassen, ein Essen bei Freunden oder einen Umtrunk im Büro etwa. Weil sie befürchtete, sich weniger zugehörig zu fühlen, wenn sie nicht trinkt. Gestern sagte sie dann folgenden, wundervollen Satz:
"Ich habe Angst, mich selbst zu verpassen, wenn ich jetzt wieder trinken würde."
Auch dein Weg ist individuell. Individuell gut. Individuell grossartig! Sei bereit, ihn zu gehen, und es wird sich dir Grossartiges auftun, das verspreche ich dir.
Danke, dass du bis hierhin gelesen hast. Alles Liebe, Maria
Ich lese mich seit gestern durch deinen Blog.
Derzeit bin ich bei Tag 3, der "Rekord" der letzten Jahre liegt bei 3 Wochen. 3 Jahre waren es nur in Schwangerschaft und Stillzeit (und da ging es mir bei beidem weder körperlich noch seelisch gut).
Ich trinke, damit das Gefühl von Verantwortung verschwindet und das Gedankenkarussell der Verpflichtungen und Verbindlichkeiten endlich stehen bleibt. Wobei mir bewusst ist, dass es nur ein Aufschub ist, denn ich habe dann alkoholbedingt massive Durchschlafstörungen und die Gedanken beschäftigten mich dann nachts - da bin ich aber alleine munter und kann "in Ruhe" nachdenken.
Erstmals nutze ich meine freien Tage jetzt ganz für mich: ich nehme mir nichts vor, sondern tue, was sich heute richtig anfühlt.